Ich seh, Ich seh
Filmbewertung: überzeugend
Starttermin: 02.07.2015
Regisseur: Veronika Franz, Severin Fiala
Schauspieler: Susanne Wuest, Lukas Schwarz, Elias Schwarz
Entstehungszeitraum: 2014
Land: A
Freigabealter: 16
Verleih: Koch / Neue Visionen
Laufzeit: 99 Min.
Horror von der feinsten Sorte
Bevor die vaterlose Kleinfamilie - Mutter, zwei zehnjährige Zwillinge - das bekannte Gesellschaftsspiel "Ich seh, ich seh, was du nicht siehst" spielt, darf der Zuschauer erst mal der guten alten Trappfamilie beim Brahms-Lied "Guten Abend, gut' Nacht" zusehen. Heile Welt, die sich in den folgenden 90 Minuten von der anderen Seite zeigt. Und das durchaus auch mal mit Splatter- und Horrormovie-Effekten. Der österreichische Psychothriller "Ich seh, Ich seh" ist ein (Halb-)Familiengemälde, das mit höchster ästhetischer Raffinesse moderne Gefühlskälte zeigt. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war: Zwei Kinder fragen sich, ob ihre Mutter wirklich noch die Mutter ist. Ganz schön surreal.

Alles andere - Riesenkakerlaken, die in Mamas Mund spazieren, Teppichmesser, die genüsslich Mamas Bauch aufschlitzen - sind Zutaten, die sich als Traumsequenzen, als aus der Hilflosigkeit erwachsende Wunschvorstellungen und vor allem als entliehenes Metapherngut aus der Horrorfilm-Tradition interpretieren lassen. Das Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala aus der Ulrich-Seidl-Werkstatt (Produktion) kreuzt das Horrorgenre mit österreichischem Schwarzhumor und penibler Sozialbeobachtung. Das klappt, wie in Debütfilmen häufig, eine Stunde lang sehr gut, bis es sich dann doch gewaltig um die eigene Achse dreht.

Die Grundidee wird nämlich sehr kunstvoll in allen Varianten durchgespielt: Mama kommt heim ins einsame, von aller Welt geradezu Lichtjahre entfernte Haus am See. Eine sterile Hölle aus Glas und Beton, äußeres Zeugnis eines zu Eis erstarrten Familienlebens. Mutter hat eine Gesichtsoperation hinter sich (Karrieredruck?) und gibt nun hinter dem einer Totenmaske nicht unähnlichen Verband ihren blonden Zwillingssöhnen scharfe Kommandos: Absolute Ruhe bitte, und völliges Abgeschirmtsein von der Außenwelt!

Wen wundert es, dass die zehnjährigen Buben an der Identität der Mutter zweifeln. Ist sie eine andere? Beweise, dass sie es ist - vom Muttermal bis zur Erinnerung an das Lieblingslied der Kinder -, bleibt die fremde Frau einfach schuldig. Irgendwann drehen die unter der neuen Strenge leidenden Kinder den Spieß einfach um: Mutter wird jetzt gefesselt und penibelst gequält - soll sie doch gestehen, dass sie nicht die wahre Mutter ist. Dass der Zuschauer nicht zum unbeteiligten Beobachter zynischer Kinderspiele werden kann, dafür sorgt die Regie mit drastischen Einstellungen aus nächster Nähe. Bauchschmerzen sind eingeplant.

Martin Gschlacht (Kamera) und Klaus Kellermann (Sound) schaffen mit auf- und niedergehenden Jalousien Licht- und Schattenspiele und erstaunliche Geräusche, die in bester Haneke-Tradition ("Das weiße Band") für Bedrückung sorgen. Bei den engelhaften Zwillingsdarstellern Elias und Lukas Schwarz hingegen setzte das Regie-Duo offensichtlich auf höchste Leichtigkeit und Improvisation. Lukas und Elias bewerkstelligen ihren bösen Quälerjob mit geradezu herausfordernder Gelassenheit. Sie sind Kinder an der Macht, die vorstoßen in ein Vakuum, das ihnen die Erwachsenen hinterlassen haben.

Wer's braucht: Mutter war wohl beim Fernsehen, die Eltern hätten sich getrennt, ist im Internet zu lesen. Manchmal lässt der Film Alltagskomik als Gimmick herein. Dann stellen sich herbeigerufene Polizisten doof oder zwei aufdringliche Rot-Kreuz-Sammler bleiben trotz offensichtlicher Ungereimtheiten im Geisterhaus hirnrissig ahnungslos - das ist dann ein bisschen Josef Hader. Doch alles in allem bestaunt man ein eher surreales Psycho-Kammerspiel in österreichischer Dialektfärbung, das seine Botschaft vom kalten Mutterherz mit höchster Raffinesse zelebriert.

Von Wilfried Geldner

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