Cannes zum 70.: "Es ist doch nur Kino"
Hach, was waren das für Zeiten, als die Pressesprecher der Filmfestspiele von Cannes (17. bis 28. Mai) erst während des Festivals zu Skandalen Stellung nehmen mussten, etwa weil Lars von Trier sein Mitgefühl für Adolf Hitler ausdrückte. Oder als der Shitstorm zumindest erst nach der Bekanntgabe der Wettbewerbsbeiträge einsetzte, weil mal wieder keine einzige Regisseurin die Chance auf eine Goldene Palme hatte. Diesmal musste man sich schon für das Plakat rechtfertigen. Nicht weil es misslungen wäre, ganz im Gegenteil, das rot getönte Bild einer tanzenden Claudia Cardinale aus dem Jahre 1959 ist ein äußerst schönes Motiv zum 70. Jubiläum. Nur wurde die italienische Schönheit auf dem Plakat nachweislich verschlankt, und die Festivalleitung dadurch genötigt, eine Erklärung abzugeben. Es sollte nicht die einzige bleiben ...

Dabei ließ die Liste der Wettbewerber doch eigentlich keine Wünsche offen: Mit Cannes-Dauergast Michael Haneke, der bezaubernden Sofia Coppola und "The Artist"-Regisseur Michel Hazanavicius konkurrieren gleich drei Oscarpreisträger um die Goldene Palme, flankiert von namhaften Festivaldarlings wie Todd Haynes, François Ozon und Hong Sang-soo. Selbst die Frauenquote stimmt dank Nominierungen für Coppola, Naomi Kawase und Lynne Ramsay halbwegs, und als Sahnehäubchen für die hiesigen Cineasten steht mit Fatih Akin sogar ein deutscher Regisseur auf der Liste. Doch während Kinoliebhabern das Wasser im Mund zusammenlief, liefen die französischen Kinobetreiber Sturm.

Warum? Weil mit "The Meyerowitz Stories (New and Selected)" von Noah Baumbach und "Okja" von Bong Joon-ho erstmals zwei Filme im Wettbewerb vertreten sind, die von Netflix produziert wurden. Was eigentlich nicht weiter problematisch wäre, hätte der Streaming-Anbieter vor, die Beiträge in die französischen Kinos zu bringen, wie es etwa Konkurrent Amazon mit seinem Vertreter, Todd Haynes' "Wonderstruck", vorhat. Da nach französischem Gesetz zwischen Kino- und Streamingstart eines Films 36 Monate liegen müssen, könnte Netflix seine beiden stargespickten Titel erst 2020 auf seine französische Plattform stellen. So lang will das Film- und Serienportal jedoch nicht warten: "Wir sind überzeugt davon, dass die französischen Kinofans unsere Filme nicht erst drei Jahre nach dem Rest der Welt sehen wollen", zitiert die "Frankfurter Allgemeine" einen Netflix-Sprecher.

So war es nun an den Festivalvorsitzenden Pierre Lescure und Thierry Frémaux, zwischen der starken französischen Kinolobby und dem US-Konzern zu verhandeln - weitestgehend vergebens. Zwar verbleiben "The Meyerowitz Stories (New and Selected)" und "Okja" im Rennen, doch es könnte das erste und letzte Mal sein, dass Netflix eine Chance auf den wichtigsten Festivalpreis der Welt hat: "Jeder Film, der im Wettbewerb von Cannes aufgenommen werden will, muss verpflichtend auch den französischen Kinos zur Verfügung gestellt werden", beschlossen die Ausrichter angesichts der "nie dagewesenen Situation". Die Neuregelung greift ab nächstem Jahr.

Nun also hängen dunkle Wolken über dem roten Teppich, ausgerechnet zur Jubiläumsausgabe, bei der es vor Stars so wimmelt, dass man sogar auf die immer etwas deplatzierte Blockbusterpremiere verzichten konnte. Allein schon unter den Juroren: Unter dem Vorsitz des spanischen Top-Regisseurs Pedro Almodóvar entscheiden nicht nur "Toni Erdmann"-Macherin Maren Ade, der italienische Oscarpreisträger Paolo Sorrentino und der südkoreanische Kultregisseur Park Chan-wook über die Vergabe der Goldenen Palme, sondern unter anderem auch die Hollywoodstars Will Smith und Jessica Chastain sowie Chinas Superstar Fan Bingbing. Und Uma Thurman sitzt der Jury der Nebenreihe Un Certain Regard vor.

Teenie-Idol Robert Pattinson hat sich bereits angekündigt, um "Good Time" zu bewerben, den Thriller von Benny und Josh Safdie, in dem er die Hauptrolle spielt, während seine Verflossene Kristen Stewart ihr Regiedebüt, den Kurzfilm "Come Swim", vorstellt. Die schottische Regisseurin Lynne Ramsay wird zur Premiere von "You Were Never Really There" mutmaßlich Joaquin Phoenix im Schlepptau haben, Todd Haynes womöglich Julianne Moore und Michelle Williams. Isabelle Huppert, zu sehen in Michael Hanekes "Happy End", gehört ebenso zum Inventar wie Diane Kruger, die die Hauptrolle in Fatih Akins "Aus dem Nichts" spielt. Sofia Coppola hingegen bringt die Hauptdarsteller ihres Kostümthrillers "Die Verführten" mit, darunter Kirsten Dunst, Elle Fanning und wohl auch Nicole Kidman, die in sage und schreibe vier Produktionen auf dem Festival vertreten sein wird: Mit ihrem "Die Verführten"-Co-Star Colin Farrell stand sie auch für Yorgos Lanthimos' Wettbewerbsbeitrag "The Killing of a Sacred Deer" vor der Kamera, mit Elle Fanning für die Romanverfilmung "How to Talk to Girls at Parties", die außer Konkurrenz gezeigt wird.

Apropos: Der Blick über den Wettbewerbstellerrand hinaus lohnt durchaus. Hier locken Marion Cotillard und Charlotte Gainsbourg in Arnaud Desplechins Eröffnungsfilm "Les Fantômes d'Ismaël", da präsentiert Roman Polanski seinen neuen Film "D'après une histoire vraie" mit Eva Green und Emmanuelle Seigner. Und dann wäre da noch die zweite Staffel von Jane Campions Miniserie "Top of the Lake" - Nicole Kidman zum Vierten -, die mit fast genauso viel Spannung erwartet wird wie die Premiere der ersten beiden neuen Folgen der Kultserie "Twin Peaks".

Wer wird bei solch einem Line-Up denn noch über Kinoverwertungsrechte und Plakate streiten wollen? Claudia Cardinale, das Postergirl des diesjährigen Festivals, jedenfalls nicht: "Es gibt so viel wichtigere Dinge auf unserer Welt, die diskutiert werden sollten. Es ist doch nur Kino, lasst uns das nicht vergessen", mahnt sie in einem Statement, das das Festival de Cannes anlässlich des Retouche-Skandälchens einholte. Aber zum Kino gehört ein bisschen Drama eben dazu.

Von Annekatrin Liebisch

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