Titus Selge
Stand-Up für Intellektuelle
Vor drei Jahren sorgte der französische Autor Michel Houellebecq mit seinem umstrittenen Roman "Unterwerfung" für Aufregung. Die Geschichte der politischen Machtübernahme und kulturellen Hegemonie einer muslimischen Partei polarisierte enorm. Heute, da die irrationale Angst vor einer "Islamisierung des Abendlandes" auch hierzulande aktueller ist denn je, wagt die ARD eine Verfilmung des provokanten Stoffes (Mittwoch, 6.6., 20.15 Uhr). Regisseur Titus Selge, der in diesem Jahr bereits mit dem Weimarer "Tatort: Der kalte Fritte" überzeugte, schuf eine reizvolle Inszenierung: Der 52-jährige Filmemacher, Neffe des Hauptdarstellers Edgar Selge, näherte sich der Thematik durch eine Kombination von Theater- und Spielfilmszenen. Ein Gespräch über die Hysterie der Islamisierungs-Debatte, den Verfall der Erzählkultur und die Zusammenarbeit mit dem eigenen Onkel.

teleschau: In "Unterwerfung" geht es um eine islamische Machtübernahme in einer westlichen Gesellschaft. Halten Sie ein solches Szenario für realistisch?

Titus Selge: Überhaupt nicht. Es gibt ja noch nicht einmal eine muslimische Partei in Frankreich. Houellebecq spielt wie ein Puppenspieler mit den Ängsten der Menschen. Ein Moslem wird so schnell nicht Präsident werden. Realistischer ist das andere Thema, dass subkutan in dem Stoff enthalten ist: Dass sich immer weniger Menschen für Politik interessieren und bereit sind, mitzugestalten. Wir sollten wieder aufstehen, rausgehen, diskutieren, unsere Positionen verteidigen. Uns den Schneid nicht von den Populisten abkaufen lassen. Die asozialen Netzwerke sind voll mit populistischem Gebrüll. Ein aufgeklärter Diskurs über Lösungsansätze kommt da wahnsinnig schwer in Gang.

teleschau: Warum kommt der so schleppend voran?

Selge: Weil man schnell in einer lauten, angstgetriebenen Debatte feststeckt. Die einen trauen sich aufgrund politischer Korrektheit nicht, bestimmte Dinge auszusprechen; und andere nutzen genau die politische Korrektheit als Vorwurf, um dann selber herumzupöbeln. Das ist ja auch im Bundestag ein beliebter Trick der AfD.

teleschau: Haben Sie sich trotz oder gerade wegen der polarisierenden Debatten um Islamisierung und Rechtsruck an den Stoff der "Unterwerfung" getraut?

Selge: Ich habe mich zuerst vor allem aus persönlichem Interesse damit beschäftigt - ob das Projekt je realisiert würde, wusste ich nicht. Michel Houellebecq lese ich schon immer gern, das ist genau mein Humor. Und "Unterwerfung" traf mich besonders, weil ich selbst im Alter der Hauptfigur bin. In der sogenannten Mitte des Lebens fragt man sich eben: Was kann ich tun, um meine Werte zu verteidigen, Position zu beziehen?

teleschau: Dargestellt wird die Hauptfigur von Ihrem Onkel Edgar Selge - war das eine besondere Zusammenarbeit?

Selge: Dass wir verwandt sind, spielte eigentlich keine Rolle. Es lief sehr harmonisch; eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit. Ich schau ihm einfach gerne zu. Und klar: Die Zuschauer sehen meinen Onkel genau so gern - er ist ein echter Publikumsliebling.

teleschau: Hatten Sie eine enge Beziehung zu ihm, als Sie jünger waren?

Selge: Er ist ja mein Patenonkel - und er hat jeden meiner Geburtstage vergessen (lacht). Aber er war ein toller Onkel, ich habe ihn immer gerne besucht, auch wenn es nicht oft vorkam. Anlässlich von Aufführungen haben wir ihn gesehen, auch weil meine Eltern sehr theaterinteressiert sind. Als ich dann auch ans Theater wollte, sagte er: "Ich helfe dir nicht, sonst hast du später das Gefühl, es mir zu verdanken". Das ist ihm bestimmt nicht leicht gefallen. Aber er hatte Recht und ich habe es nicht vergessen.

teleschau: Ihr Onkel spielt auch die Hauptrolle im Theaterstück "Unterwerfung", das im Film mit Spielfilmszenen gegengeschnitten wird. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Selge: Das Theaterstück war die Initialzündung; dieser Parforceritt eines einzelnen Darstellers -ein gigantischer Erfolg. Ich finde Karin Beiers Inszenierung großartig. Aber auf einer Bühne muss man viel mehr mit deutlichen Zeichen arbeiten, als im Film. Die verweichlichte, nach Innen gekehrte Seite der Figur fängt die Kamera leichter ein. Und da François auch eine Metapher für den Zustand unserer Gesellschaft ist, hielt ich es für wichtig, der Figur so nahe wie möglich zu kommen. Daraus entwickelte sich die Idee, eine Mischform zu schaffen.

teleschau: Sie schaffen damit eine Art Meta-Ebene: Die Reaktion des Publikums auf die gewagte Thematik wird gleich mitgezeigt.

Selge: Die Backstage-Rahmenhandlung, in der Edgar mit dem Zug ankommt und zur Arbeit geht, war eine sehr frühe Idee. Das gibt es oft bei Comedy-Specials auf Netflix zu sehen. Edgar macht in "Unterwerfung" ja im Grunde Stand-Up für Intellektuelle (lacht). Etwas größer wurde das Ganze dann durch die G20-Proteste in Hamburg, das war ja nicht geplant - passte aber so gut zum Thema. Diese Meta-Ebene - die würde ich umschreiben als das "europäische Fenster".

teleschau: Was meinen Sie damit?

Selge: Da schauen wir als Deutsche durch. Wir sehen einen deutschen Schauspieler in einem deutschen Theater auf Deutsch einen Franzosen spielen, der eine französische Geschichte in Paris erlebt. Das reißt den Vorhang auf für die europäische Bedeutung dieses Themas. Nicht nur in Frankreich herrscht eine irrationale Angst vor Islamisierung, sondern überall in Europa. In Frankreich sind es vor allem die Identitären, die sich das zunutze machen. Die gibt es auch hierzulande nicht zu knapp.

teleschau: Welche Gefahr sehen Sie dabei?

Selge: Aus reiner Panikmache verkriechen die Leute sich in ihre Schneckenhäuser. Damit wird den Falschen in die Hände gespielt, den Populisten.

teleschau: Hatten Sie nicht auch Sorge, dass Ihre Verfilmung den Populisten Stoff liefert? Immerhin wird die Geschichte einer "Islamisierung des Abendlandes" erzählt, wie sie etwa Pegida im Titel trägt.

Selge: Dass die sich auch dafür interessieren, kann man nicht verhindern. Den Diskurs einzustellen, hielte ich für falsch. Natürlich haben wir uns gefragt, was passiert, wenn sich die AfD an den Film dranhängt. Da kann man das Gesprächsangebot nur ernst nehmen - und versuchen, mit Argumenten zu überzeugen. Ich habe aber auch ein paar Dinge eingebaut, die meine Haltung deutlich machen. So lasse ich die vorgeblichen ausländischen Taschendiebe vom Anfang später wieder auftauchen, um zu zeigen, dass sie nichts gestohlen haben. Dass es nur eine hysterische Reaktion des Protagonisten war.

teleschau: Houellebecq wurde ja oft vorgeworfen, seine Figur sei sexistisch und islamfeindlich.

Selge: Für mich ist François eine rührende und eher jämmerliche Figur. Er ist kein Islamfeind, aber auch kein Frauenhasser. Der will einfach auf den Arm (lacht). Geliebt werden. Die Einsamkeit des Menschen ist in allen Houellebecq-Büchern Thema. Beim Dreh in Paris merkten wir auch, wie viel seine Figur mit der persönlichen Lebenswelt des Autors zu tun hat. Die Wohnung, in der wir drehten, lag im benachbarten Hochhaus zu Houellebecqs eigener Wohnung.

teleschau: Oft wurde der Autor für seine Beschreibung der Lebenswelt des alternden weißen Künstler-Typen kritisiert.

Selge: Das ist er ja nun mal! Warum soll er nicht über sich selbst schreiben? Solange er das so unterhaltsam tut; provokant, aber nicht billig, sondern intelligent. Er spielt ja zudem als Person in Frankreich medial eine große Rolle; inszeniert sich und seinen "Zerfall" selbst. Aber ich hörte, aktuell hat er wieder die Zähne drin und trägt die Haare gepflegt (lacht). Ich finde es gut, wenn er den Finger in die Wunde legt und fragt: Was wäre wenn?

teleschau: Welche Wunde ist das genau?

Selge: Er selbst sagte mal, er sei der "Autor der totalen Schlaffheit". Die Müdigkeit unserer liberalen Demokratie, der Unwille an gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen - das ist das Hauptthema des Buches. Houellebecq ist ein Optimist, der glaubt, die Welt mit seinen Büchern verbessern zu können.

teleschau: Glauben Sie, Ihr Film kann auch dazu beitragen?

Selge: Nach den Theateraufführungen - und auch nach unserer Filmpremiere - standen die Leute noch lange zusammen und unterhielten sich angeregt - nicht nur über die Inszenierung, sondern auch über den Inhalt. Das ist ungewöhnlich und für mich als Erzähler das Schönste. Wir wollen die Leute auf unterhaltsame Weise dazu bringen, eine Haltung zu beziehen. Dass sie nicht sagen: Kopftuch oder nicht - mir doch egal, Hauptsache die Bierflasche ist immer schön kalt (lacht). In unserer hysterisierten Gesellschaft, zu der die Medien viel beitragen, soll der Film auch sagen: Leute, haltet mal den Ball flach; schaut euch die Zahlen zu Islam und Migration an, lasst euch von Populisten nicht in die Panik treiben.

teleschau: Dass es dem deutschen Fernsehfilm an Haltung mangelt, wird ihm oft vorgeworfen.

Selge: Als Geschichtenerzähler ist mein Thema auch der Verfall der Erzählkultur. Man merkt beim Fernsehen, wie Geschichten immer häufiger nach demselben Muster erzählt werden. Weil die Zuschauer das angeblich wollen. Das ist völliger Quatsch. Die Zuschauer wollen interessante Filme sehen, angeregt werden, auch irritiert werden. Das muss man sich als Sender aber auch trauen. Darum ist es so wichtig, mutigen Frauen wie Patricia Schlesinger und Martina Zöllner vom RBB zu danken.

teleschau: Verstehen Sie die Kollegen, die sich abwenden, zu Streamingdiensten gehen etwa?

Selge: Ja, die verstehe ich. Aber so läuft es ja nicht: Man geht nicht einfach zu Netflix. Die meisten jammern einfach (lacht). Oft ist zu hören: Das wäre so ein toller Beruf, aber wir dürfen ja nicht! Durch Netflix und Co. werden jetzt immerhin neue Erzählformen möglich, an denen sich dann das öffentlich rechtliche Fernsehen orientiert. Da tut sich etwas, so was wie "Bad Banks" wäre zum Beispiel vor ein paar Jahren nicht denkbar gewesen wäre.

teleschau: Warum hat es das Anspruchsvolle so schwer?

Selge: Eine künstlerische Form zu wählen, wie jetzt in "Unterwerfung", befremdet offenbar heute - da waren wir schon mal weiter. Dabei wollen viele Regie-Kollegen ungewöhnliche Filme machen. Das ist aber nicht gewollt, darum muss man richtig kämpfen. "Unterwerfung" hält die Fahne für ein komplexeres Erzählen hoch. Was meinen Sie, wie oft ich gehört habe: Das glaub ich ja gar nicht, dass das wirklich im Fernsehen läuft (lacht)!

teleschau: Glauben Sie an eine Veränderung der deutschen Fernsehkultur?

Selge: Die kann vermutlich nur durch ökonomischen Druck erfolgen. Wenn das Geschäftsmodell der Langweiler nicht mehr funktioniert, dann werden wieder mehr aufregende Filme produziert. Aber Qualität hat auch etwas mit Haltung zu tun. Eine stabile Quote kann man zwar anstreben, dann sendet man aber auch immer die gleichen Filme. Der Mensch ist zwar ein Gewohnheitstier - aber das ist nicht gut so. Mutet den Leuten mehr zu!

teleschau: Ist da auch eine Aufklärung hinsichtlich Medienkompetenz vonnöten?

Selge: Wir brauchen viel mehr Bildung in Sachen Film. Mein elfjähriger Sohn hat noch immer keinen Filmunterricht an der Schule. Dabei hängen die Kids den ganzen Tag auf YouTube. Kinder müssen lernen, Filme zu interpretieren - aber sie kriegen kein Handwerkszeug beigebracht, wie man dieses manipulative Medium durchschaut. Die Leute nehmen es hin, dass die Wirklichkeit inzwischen Fernsehshows nachäfft - erst recht wenn es der US-Präsident tut. in Das finde ich gefährlich. Aber auf mich hört ja keiner (lacht).

Von Maximilian Haase

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